Biggy Pops Jahresrückblick 2023: dying or dancing?

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„Do I imagine myself dying or dancing?“ Diese Frage notiere ich mir Anfang dieses Jahres. Ich warte auf Biopsie-Ergebnisse. Tod oder Tanzen? Letztlich liegt die Antwort dazwischen. Ein seltener bösartiger Tumor, der erfolgreich herausoperiert wird. Zur Sicherheit mache ich im Frühjahr eine Strahlentherapie. 33 Werktage hintereinander radele ich in Hamburg ins Krankenhaus. Ich arbeite unterdessen weiter. Es lenkt mich ab. Es ist gut, aber auch notwendig. Über Kranksein im Zuge von Selbstständigkeit wird immer wieder zu reden sein müssen. Erst recht im Musik- und Kulturbereich. 

Tod oder Tanzen. Letztlich geht es für mich — losgelöst von der unmittelbaren existentiellen Bedrohung — um meine innere Haltung, wie ich der Welt begegne. Bin ich im Drama- und Krisen-Modus oder kann ich mich mit einer gewissen Leichtigkeit ins Leben begeben? Angesichts der persönlichen und globalen Umstände ist der positive Flow reichlich ins Stocken geraten. Im Jahresrückblick: Die Ukraine und Israel. Rechtsruck und Rassismus. Die Erde überhitzt und überschwemmt. Parallel dazu immer wieder die eigenen Energien aktivieren. Heilen. Weitermachen. Sehr viel lesen. Sehr viel Musik hören.

Motto für 2024: mehr tanzen! Wenn dann noch ausreichend Clubs da sind

Bewegte ich mich die meiste Zeit 2023 in einer Art optimistischen Survival-Mode, überkam mich Ende des Jahres zunehmend eine große Erschöpfung. Von Corona zu Cancer. Drei Jahre Pandemie und dann Krebs. Untersuchungen. Behandlungen. Glück im Unglück. Wieder gesund sein. All diese Anstrengungen und Anspannungen rollten nun zeitverzögert durch Geist und Körper.

Mein Motto für 2024: mehr reisen, mehr tanzen. Wenn dann noch ausreichend Clubs da sind, um dies zu tun. Das Jahr war popkulturell betrachtet ohnehin schon erneut herausfordernd. Der Sexismus in der Musikbranche kam mit den Enthüllungen um Rammstein aufs Hässlichste zum Vorschein. Musikschaffende können aufgrund gestiegener Kosten und neuer Spotify-Regelungen künftig noch schlechter von ihrer Kunst leben. Und große Konzerte werden dank irrsinniger Ticketpreise zum Luxusgut. Hinzu kommt in Hamburg zum Jahresende ein unglaublicher Aderlass in der Club-Kultur. Das Pal und die Sternbrücken-Clubs machen dicht. Und überraschend ist dem Molotow zu Mitte 2024 der Mietvertrag gekündigt worden. Tod oder Tanzen? Irgendwie beides.

Wir brauchen Räume, in denen wir uns begegnen und entgrenzen können

Ein Vierteljahrhundert meines Lebens habe ich bisher im Molotow verbracht. Dieser Ort — ob nun die alte Location in den Esso-Häusern oder die neue am Nobistor — ist absolut identitäts- und gemeinschaftsstiftend. Denn wir brauchen reale Räume, in denen wir uns begegnen und entgrenzen können. In denen wir uns tanzend imaginieren und neu erfinden. Wo Musik an den Gefühlen zieht und sie ausbrechen lässt. Bis der Schmerz und das Schöne, die Euphorie und die Zweifel aller sich zu einem wunderbar wirren Tanz zusammenfinden. Ein kollektives Erlebnis, das uns verbindet. Eine Utopie, die uns befeuert. Und für die es sich unbedingt zu kämpfen lohnt. 

Popkultur hat mich durch dieses Jahr getragen. Denn zum Glück gab es auch viele positive Entwicklungen und Ereignisse. Mehr Austausch über herausfordernde Themen. Mehr Awareness auf Festivals und in Clubs. Und auch wenn Aufzählungen im Jahresrückblick nicht das Spannendste sind, so möchte ich doch von einigen Highlights erzählen. Denn letztlich dienen sie auch der Selbstvergewisserung. Ich bin noch da. Wir sind noch da. Tauschen uns aus. Wir vertrauen uns. Und reiben uns. Wir gehen weiter. 

Popkulturelle Highlights 2023: „Barbie“, K-Dramas, Konzerte

Im Kino zeigte die Dokumentation über Die Sterne äußerst nahbar die Neujustierung einer Band. Und mit dem Referenzfeuerwerk „Barbie“ wurde im Mainstream wochenlang über Formen des Feminismus diskutiert. Dann noch die zu Dua Lipa tanzende Barbie, die mitten hinein in die Choreo fragt: „Do you guys ever think about dying?“ Check. Und sowieso: „I’m just Ken“. Was für ein Spaß! Toxische Männlichkeit revisited. Ich bin zudem verstärkt abgesunken in Serien. In die Hochleistungsküche von „The Bear“. In die gelebte Diversität von „Sex Education“. Und immer wieder in das einnehmende Storytelling von K-Dramas. 

Doch nichts geht über das Live-Erlebnis. Über ganz unterschiedliche Konzerte von unter anderem Robbie Williams, Hauschka, Vicky Leandros, Sigur Ros, Uche Yara, dem Joni Project und Alli Neumann, die ich 2023 erleben durfte. Der Hamburger Kneipenchor feierte ebenso zehntes Jubiläum wie ich mit meinem geliebten Gesangsensemble The Octavers. Im TBA in der Gaußstraße luden wir im Sommer zum Geburtstagskonzert. Eine lauschige Hinterhof-Location. Es leben die kleinen Off-Orte!

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Deer Anna & Biggy Pop, fotografiert von Jörg Tresp.

Jahresrückblick auf mein berufliches popkulturelles 2023

Immer wieder bin ich enorm dankbar, in meiner Arbeit als selbstständige Journalistin, Texterin und Moderatorin so vielen inspirierenden Menschen zu begegnen. Für Albumbios und Pressetexte habe ich mit großartigen Bands und Pop-Artists zusammengearbeitet. Unter anderem mit der deutsch-türkischen Indie-Formation Engin, mit der wunderbar geheimnisvollen Musikerin June Coco, mit der vielschichtigen Künstlerin Dorothee Möller aka Weesby, mit der immer wieder einfallsreichen Band Mischpoke, mit dem feinsinnigen Duo Fjarill oder mit Deer Anna, deren wahrhaftige Songs ganz tief in einem wirken.

Ich liebe es, mich intensiv über die Kunst auszutauschen und die Musik mit Geschichten zu verbinden. Meine Erfahrungen aus dieser texterischen Arbeit bringe ich seit diesem Jahr auch in Beratungen ein, zum Beispiel mit der tollen Cellistin Stefanie Richter aka Sophie & der Sommer. Zudem durfte ich meine Freundin Sascha Just begleiten, die ihre Dokumentation „Ellis“ über den Jazzmusiker Ellis Marsalis bei Filmfestivals wie der Soundtrack Cologne präsentiert hat. 

Dank an die Kolleginnen und Kollegen, die meinen Horizont erweitern

Ich freue mich zutiefst über all die neu entstandenen und gesund gewachsenen Kooperationen. Über die immer neuen Ideen und den langen Atem. Über die Zusammenarbeit mit der Initiative Musik, mit RockCity und Oll Inklusiv etwa. Und auch über die angeregten Diskussionen bei meiner Gremientätigkeit für die Kulturbehörde Hamburg in der Labelförderung und beim Musikstadtfonds. 

Mein Dank gilt im Jahresrückblick zudem allen Kolleginnen und Kollegen, die mit ihrem Input immer wieder meinen Horizont erweitern. Zum Beispiel Caro Schwarz vom Online-Magazin Musicspots, Fabian Schuetze vom Newsletter Low Budget High Spirit und Susanne Hasenjäger vom NDR, um nur einige zu nennen. Nicht zu vergessen meine bloggenden Freund*innen Julia Keith von Beautyjagd und Weinspezialist Matthias Neske von Chez Matze. Keine Popkultur im engeren Sinne. Aber wir wollen ja alle hübsch über den eigenen Tellerrand hinausschauen, richtig?

Biggy Pop im Gespräch mit David Bonk (DaJu), Jens Friebe, Julia Bergen (DaJu), Malonda & Redchild (v.l.), fotografiert von Laura Müller.
Biggy Pop bei „Operation Ton“ im Gespräch mit David Bonk (DaJu), Jens Friebe, Julia Bergen (DaJu), Malonda & Redchild (v.l.), fotografiert von Laura Müller.

Wenn die Wellen wogen und die Herzen überschwappen

Es geht darum, wieder und wieder ins Gespräch zu gehen. Für meine NDR-Radiosendung Nachtclub Überpop habe ich mich mit KI befasst, mit der Lage von Newcomer*innen und Clubs. Auf Festivals und Konferenzen habe ich Panels zu Popkultur und Politik, Musikbranche und Songwriting moderiert. Und für das Hamburger Abendblatt habe ich nicht nur das Kulturleben der Stadt erkundet, sondern bin mit dem Thema „Harry Potter“ auch in das Podcast-Game eingestiegen.

Ich bin ein riesiger Fan von Fankultur. Deshalb begeistert mich die anhaltende Faszination für diese magische Geschichte ebenso wie die hypermodernen Kommunikationsformen des K-Pop. „Standing Next To You“ von Jung Kook ist vermutlich mein am meisten gehörter Song des Jahres. Dicht gefolgt von Miley Cyrus, die ich ebenfalls hart fangirle. „I Can Buy Myself Flowers“. Survival-Mode ins Positive gedreht.

Diese Hymne funktioniert auch beim Auflegen auf der Barkasse Hedi allerbestens. Die Parties als DJ auf der Elbe gemeinsam mit dem grandiosen Hedi-Team sind für mich große Kraftquellen. Wenn die Wellen wogen und die Herzen überschwappen. Und wenn die Leute dicht an dicht mitsingen. Vor allem wenn alle tanzen. Eine Leichtigkeit. Denn: „Nothing matters when we’re dancing“. In diesem Sinne: ein gutes Jahr 2024!

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Reeperbahn Festival 2020, Tag 1 – check check check

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Nun hat es also begonnen, das erste Reeperbahn Festival unter Pandemie-Bedingungen. Und bei dieser Art von popkulturellem Labor-Event ist mir am ersten Tag noch einmal enorm bewusst geworden, wie nachhaltig Corona unser Verhalten prägt. Unser Leben ist kontrollierter geworden. Das wird vor allem beim Zugang zu den Open-Air-Bühnen und Clubs auf St. Pauli deutlich. Bei jedem Einlass gilt es, mit Hilfe eines QR-Codes einzuchecken. Also die eigenen Kontaktdaten auf einer Webseite zu hinterlegen, um potenzielle Infektionsketten nachvollziehbar zu machen. Beim Verlassen der Spielstätte muss sich jede und jeder aber auch wieder aus dem Areal ausloggen. Sonst klappt es nicht mit dem nächsten Einlass. Check-in. Check-out. Check one two. Check check check. 

Dieses Prozedere führt mitunter zu leicht kafkaesken Momenten. Etwa, wenn ich das Festival Village auf dem Heiligengeistfeld verlasse (Check-out), um nach fünf Meter das Gelände für die große Festivalbühne zu betreten (Check-in). Kurz wünschte ich, ich hätte mir für das Reeperbahn Festival eine dieser praktischen Anglerwesten mit vielen Taschen besorgt. Denn gefühlt jongliere ich permanent mit Gegenständen. Handy, Maske, Sonnenbrille, Desinfektionsmittel, zudem der Mantel für den kühleren Abend. Ein stetes Hervorkramen und Verstauen. Aber ach. Natürlich ein hundertfünfzigprozentiges Luxusproblem. Denn wie beglückend ist es doch, so etwas wie ein Festival in diesem Jahr überhaupt erleben zu können. 

Vom Homeoffice-Level auf Festival-Modus umschalten

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Die Fritz Bühne im Festival Village mit Corona-Kästchen, fotografiert von Tom Heinke

Die Band Koko eröffnet das Live-Programm des Reeperbahn Festivals am frühen Mittwochnachmittag auf der kleinen Fritz-Bühne im Festival Village. Mit ihrem Mix aus Electro, Hip-Hop und Indie-Rock bieten sie den perfekten Soundtrack, um von Homeoffice-Level langsam auf Festival-Modus umzuschalten. Festival-Modus 2020, versteht sich. Denn, wie heißt es so schön in einem Hit von Stereo Total: „Wir tanzen im Viereck“. In 1,50 Meter Abstand sind Quadrate auf den Asphaltboden aufgesprüht, in denen je zwei Menschen stehen oder sitzen dürfen. Für Square-Dance-Mini-Raves. 

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Akua Naru, fotografiert von Robin Schmiedebach

Doch da ist diese große Dankbarkeit zu spüren, wieder gemeinsam mit anderen Popkultur feiern zu können. Zum Beispiel bei Sängerin und Spoken-Word-Artistin Akua Naru. Sie habe diverse Corona-Tests machen lassen, um endlich in dieses Mikrofon singen zu dürfen, ruft sie von der großen Open-Air-Bühne auf dem Heiligengeistfeld hinab.

Die ankommenden Musikfans werden dort vom Security-Personal an ihre Plätze geführt. Zwei Stühle, Abstand, zwei Stühle, Abstand. Und so weiter. Ein sehr luftiges Sitzen. Bei Akua Narus Fusionsound aus Soul, Jazz und RnB führt das eher zu einer Lounge-Atmosphäre in der Abendsonne als zu euphorischem Groove in der Menge. 

Umsicht und Freundlichkeit vor den Clubs und Bühnen

Insgesamt fühlt sich dieser erste Festivaltag wie ein gemeinsames Herantasten und Lernen an. Die meisten Gäste scheinen extrem darauf bedacht, gut mitzumachen, damit diese durchaus historische Festivalausgabe gelingt. Selbst bei langen Schlangen vor den Clubs am Abend – etwa vor dem Gruenspan bei International Music oder vorm Molotow für die Band Paar – ist die Stimmung meines Erachtens sehr entspannt bis umsichtig.

Und all den Menschen, die auf den Open-Air-Arealen sowie vor und in den Clubs arbeiten, sei ohnehin ein riesiges Lob ausgesprochen für ihre Geduld und Freundlichkeit. Denn sie sind diejenigen, die nun zu koordinieren haben, dass die Locations Corona-bedingt nur zu etwa einem Fünftel gefüllt sein dürfen. Ohne sie ist Popkultur nichts.

Carsten Brosda: „Es geht darum, Verantwortung zu übernehmen“

Alles in allem fehlt mir der internationale Buzz, der sonst Hamburg in diesen vier Ausnahmetagen im September erfasst. Das Reeperbahn Festival fühlt sich deutlich lokaler an. Und weniger beschwingt, frei, spielerisch. Was für ein Unterschied ist das zum Beispiel zum vergangenen Jahr, wo das Festival für mich mit Guerilla-Networking vor einem Kiosk auf der Reeperbahn begann. Aber als erster Eindruck überwiegt für 2020 die Erkenntnis: Es ist anders, aber es funktioniert. Und auch die Jonglage des Check-in, Check-out habe ich bis zum Ende des ersten Tages halbwegs erlernt. Denn letztlich geht es in diesen merkwürdigen Corona-Tagen nicht nur um das individuelle Musikerleben. 

„Es geht darum, Verantwortung zu übernehmen für unsere Kreativindustrie, für unser Kultur, für die Bildende Kunst, für die kulturelle Infrastruktur, die Clubs, die Plattenfirmen, die Konzertveranstalter, die Backliner, die Verleger und natürlich die Musiker“, erklärt Kultursenator Carsten Brosda bei der Eröffnungsveranstaltung am Mittwochabend, die ich mir am nächsten Morgen im Stream anschaue. Normalerweise tragen all diese Menschen dazu bei, unser Leben zu bereichern. Nun sei es aber unser Job als Gesellschaft, der Musikbranche zu helfen, diese schlimmen Zeiten zu durchzustehen, erläutert Carsten Brosda. 

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Kultursenator Carsten Brosda bei „Doors Open“, fotografiert von Fynn Freund

„Das Reeperbahn Festival ist dieses Jahr ein Zeichen des Überlebens und ein Leuchtfeuer der Hoffnung, dass Livekultur zurückkehren wird. Trotz der Auflagen, die das Virus uns auferlegt“, erklärt der Kultursenator in seiner Ansprache weiter. Es gehe auch darum, so Carsten Brosda, die eigene Verletzlichkeit anzuerkennen. Mit Ängsten umzugehen. Weiterzumachen. Und vor allem: offen zu bleiben für Mitmenschlichkeit. Erst recht in Zeiten, in denen Europa in seiner Flüchtlingspolitik so heftig versage. Musik, besonders live, öffnet diese Emotionen und Haltungen seit jeher. Derzeit ist sie daher wichtiger denn je.

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Reeperbahn Festival 2020 — hybrid durch die Pandemie

Heiligengeistfeld, Banner, Reeperbahn Festival, Hamburg

Am morgigen Mittwoch beginnt das Reeperbahn Festival. Ein simpler Satz. Und dennoch hätte ich im Frühjahr nicht gedacht, dass ich ihn auf diesem Blog schreiben würde. Vielmehr erfüllte mich mit dem popkulturellen Shutdown von Konzerten und Festivals eine Zeit lang eine Art tocotronischer „Sag alles ab“-Fatalismus. Nun findet das viertägige Pop-Event statt. Und doch ist in diesem merkwürdigen Corona-Jahr alles anders. Die Sause aus Club-Shows und Konferenz-Programm geht als sogenanntes Hybrid-Festival über die Bühnen. Das heißt: in einem Mix aus gestreamtem Angebot und realem Programm. Wie das wohl wird?

Reeperbahn Festival, LogoNormaler Weise, also ohne weltweite Pandemie, wäre ich Tage vor dem Reeperbahn Festival bereits damit beschäftigt, mir einen Ablaufplan zu erstellen aus Konzerten und Talks, vor allem aber aus beruflichen Meetings. Seien es Eins-zu-eins-Gespräche mit Menschen aus der Branche, zu denen ich sonst nur per Mail in Verbindung stehe. Seien es die vielen Receptions von Platten- und Bookingfirmen, von Lobbyverbänden und Ländervertretungen. Oder seien es all die Drinks, Schnacks und Kennenlerntreffen am Rande. 

Die meisten dieser Networking- und Business-Termine fallen dieses Jahr flach. Und aufgrund des eingeschränkten Reiseverkehrs wird St. Pauli als Austragungsort wesentlich weniger international sein. Das bedauere ich sehr. Aber wer weiß: Womöglich hat diese Reduktion andererseits auch etwas Positives. Eine Konzentration auf das Wesentliche zum Beispiel. Auf die Musik. Ich bin gespannt. 

Hoch subventioniertes „Frühstücksfernsehen“

Der Auftakt zum Reeperbahn Festival gestaltet sich jedenfalls schon einmal anders als in den 14 Jahren zuvor. Statt am ersten Tag meinen Festival-Pass abzuholen, checke ich bereits einen Tag vorher online in die Konferenzplattform ein. In diesem digitalen Raum sind ab Mittwoch früh Panels sowie On-Demand-Präsentationen von Labels und Organisationen zu erleben. Flugs lege ich mir ein Profil an, um im Laufe des Reeperbahn Festivals mit anderen Konferenzgästen in Kontakt treten zu können. Ich bin neugierig, ob das funktioniert. Oder ob die Leute zu bildschirm-müde sind aufgrund all der Zoom- und Skype-Interaktionen in den vergangenen Corona-Monaten.

Screenshot, Reeperbahn Festival, Webseite, Hamburg, Clubs, Konzerte, St. Pauli, Konferenz, MusikbrancheAls eine Art „Frühstücksfernsehen“ bezeichnet Konferenz-Chef Detlef Schwarte das Angebot. Das reale Konzertprogramm rund um den Kiez startet wiederum am frühen Nachmittag. Und zwar stark reduziert und hochgradig gefördert. Gut 9000 statt ansonsten 50.000 Gäste empfängt das Reeperbahn Festival 2020. Und auch die Zahl von rund 160 Programmpunkten für Festivalgänger sowie 100 Talks fürs Fachpublikum ist deutlich niedriger als die Auswahl der Vorjahre. Statt der regulären 600.000 Euro Unterstützung von Bund und Land erhält das Reeperbahn Festival dieses Jahr zusätzlich 1,3 Millionen Euro. Das heißt: Rund drei Viertel der Sause — also sowohl Konzerte als auch Konferenz — sind subventioniert. 

Aufmerksamkeit für Solo-Selbstständige

„Ökonomisch ist das Reeperbahn Festival ein Kunstprodukt“, sagt Festival-Chef Alexander Schulz im „Mopo“-Interview über die Ausgabe 2020. Natürlich lässt sich das Ganze jetzt als hochgezüchtetes Projekt ohne Anbindung an die realen Nöte der Musikbranche abtun. Aber so einfach ist das natürlich nicht. Im Gespräch mit Kollegin Frederike Arns erklärt Schulz weiter, dass in dem „Apparat“ der Kultur- und Veranstaltungswirtschaft 85 Prozent Solo-Selbstständige und Kleinunternehmer beschäftigt sind. Wenn diese wichtigen Akteurinnen und Akteure auf einem Event wie dem Reeperbahn Festival endlich wieder zu tun haben und ihre Arbeit so zudem mehr Aufmerksamkeit erhält, ist schon viel gewonnen. 

Alexander Schulz, Reeperbahn Festival
Alexander Schulz, fotografiert von Jim Kroft (Titelbild fotografiert von Dario Dumancic)

Von vielen Menschen aus meinem Umfeld weiß ich, dass sie ihr Festivalticket für nächstes Jahr haben umbuchen lassen. Die Aussicht auf weniger Konzerte ohne schönes wogendes wie schwitziges Live-Feeling schreckte dann doch viele ab. Neben Open-Air-Shows, zum Beispiel auf dem Heiligengeistfeld und dem Spielbudenplatz, finden in einigen Clubs bestuhlte Indoor-Gigs statt — mit ausgetüfteltem Hygienekonzept, versteht sich.

Old school vor der Bühne oder new school vorm Rechner?

Also: Wie wird es sich anfühlen, das Reeperbahn Festival 2020 (oder wie Musikenthusiast Nils es nennt: das Reepandemie Festival )? Entscheidungen fällen statt Auskundschaften? Schlange stehen statt Stromern? Abstand statt Ausrasten? Oder statt old school vor der Bühne direkt komplett new school vorm Rechner?

Wie wohl und sicher fühlt sich jede und jeder Einzelne dieser Tage in einem Club? Und im großen Bild betrachtet: Können Lösungsansätze zur Krisenbewältigung entwickelt werden? Welche Impulse wird dieses hybride Get-Together aussenden — in die Musikszene und womöglich auch in die Gesellschaft?

Ich bin jedenfalls optimistisch, dass sich auch dieses Jahr anregende Begegnungen ergeben und inspirierende Konzerte ereignen werden. Nur eben anders. Wir alle lernen derzeit unglaublich viel. Über uns. Über andere. Über virtuelles und reales Leben. Jetzt ist die Zeit, in der die Popkultur zeigen kann, wie innovativ sie ist. Und wie verbindend.

Rückblick auf das vergangene Jahr:

Reeperbahn Festival — Fazit 2019: Lasst uns reden

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Frau Hedi multiplizieren: Zeigt Eure Party-Erinnerungen und bastelt die Barkasse

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Diesen Donnerstag hätte ich als DJ Biggy Pop meine Saison auf der Hedi begonnen. Frau Hedi, genauer gesagt. Jener Barkasse, auf der sich zu rock ’n‘ rolligen Klängen über die Elbe schippern lässt. Schwimmender Club. Wogende Kaschemme. Nussschale der Herzen. 

Ich liebe es, zum Fluss herunterzuradeln. Meine Musik im Rucksack. An den Landungsbrücken 10 steige ich die schmale Treppe hinab. Die Hedi liegt leicht schaukelnd an der Innenkante. Die famose Crew wuchtet gerade Bierkisten, Flaschen und Eis an Deck. Ahoi und Hallo, Umarmungen und Handschläge. Ein kleines feines Nachhausekommen, ein Nachdraußengehen nach dem Winter, der zwischen Wänden verbracht wurde. Zwischen den eigenen. Aber auch zwischen denen von Musikclubs, Konzerthallen und Bars. Das gute wilde Leben. Eine Art von Verbinden. 

Hedi ist eine menschenfreundliche, aber auch querdenkende Gastgeberin

Nach einem kleinen Soundcheck hätte dann der Einlass begonnen. Ich mag es sehr, wenn sich das Boot füllt. Den Leute steht diese Erwartung einer guten Zeit ins Gesicht geschrieben. Diese Vorfreude und Offenheit. Ich spiele gerne ein wenig Ankommensmusik, während die Hedi auf die Elbe hinausrollt. Am Dock 10 vorbei. Hin zu den Ecken, Winkeln und Schleusen im Hamburger Hafen. Positive Sounds sollen es sein, zu denen sich ein erstes Getränk bestellen lässt. „Wann strahlst du?“ von Erobique & Jacques Palminger ist zum Beispiel ein guter Song, um auf die spezielle Atmosphäre der Hedi einzustimmen. Denn die Hedi ist eine äußerst menschenfreundliche, aber auch querdenkende Gastgeberin. Ballermann ist ihre Sache nicht. Dafür das Schöne, Schräge, das alle Umarmende. 

DJ, Biggy Pop, Frau Hedi, boat, cruise, Hamburg, Harbour, Club, PartyIch schaue mir immer gerne an, welche Menschen an Bord sind. Was könnte ihr Herz erfreuen. Was bringt sie womöglich zum Tanzen. Spiele ich mehr Soul oder mehr Indierock oder mehr  Hip-Hop oder mehr Pop? Am liebsten ohnehin von allem das Gute. Zu Beginn einer Tour hängen viele erst einmal im Außen. Im großen Oh und Ah. Die Kräne und die Köhlbrandbrücke, die Schiffe und der Sonnenuntergang. Stunde um Stunde und Schnaps um Schnaps richtet sich die Aufmerksamkeit dann langsam nach Innen. 

Der Corona-Konjunktiv

Aus all den sehnsuchtsvollen Seeleuten wird nach und nach bestenfalls eine große schaukelnde Partycrew. Alle tanzen dann Walzer zu Peter Sarstedt oder klopfen sich mitsingend auf die Brust bei Queen. Sie liegen sich in den Armen bei Britney Spears oder schütteln ihr Haar zu Peaches. Die Enge des Raums. Das Auf und Ab. Der Blick auf die Lichter der Stadt. All das ist dann verdichtetes Glück. 

Dieses Jahr ist alles anders. Dieses Jahr ist alles ein großes Eigentlich. Hätte, würde, könnte. Der Corona-Konjunktiv. Doch um den Hedi-Spirit aufrechtzuerhalten, habe ich mir eine Aktion überlegt. Zur Freude aller, die das gemeinsame Feiern auf der Elbe vermissen. Und auch, um mir den ausgefallenen Auflege-Abend ein wenig zu versüßen.

Aktion diesen Donnerstag: die Hedi-Multiplikation

Lasst uns gemeinsam mit Frau Hedi durch das Netz schippern. Postet diesen Donnerstag (9.4.) ab 20 Uhr Eure Hedi-Erinnerungen auf Euren sozialen Plattformen. Auf Facebook, Instagram, von mir aus auch auf Twitter und was ihr sonst noch so nutzt. Eure Fotos und Filme aus den vergangenen Hedi-Jahren werden so am Donnerstag zum kollektiven Party-Törn. Und falls Ihr gerade kein Archivmaterial zur Hand habt: Erzählt einfach eine kleine Hedi-Anekdote.

Frau Hedi, Hedi, Barkasse, Boot, boat, cruise, Party, DJ, Biggy Pop, DIY, Badewanne, Gitarrenmann, Rettungsring, Discokugeln, Party, Club, Szene, Musik, Music, PopOder, tadaa: Bastelt Eure eigene Hedi! Ich habe zum Beispiel eine Tupperschüssel zu Barkasse umgebaut und in meiner Badewanne vom Stapel gelassen. Nutzt Tassen, Töpfe und Krimskrams. Baut die Hedi-Kloschlange mit Plüschtieren nach. Fabriziert ein DJ-Pult aus Keksen. Verkleidet Euch als Hedi-Kapitän. Die Kreativität ist so weit wie ein Fluss. Am besten noch: Lasst — wenn vorhanden — Eure Kinder die Hedi malen oder bauen. Die können das im Zweifelsfall ohnehin viel besser und bunter.

Neumodisch hieße diese Aktion wohl: Challenge. Irgendwie scheint alles eine Challenge zu sein dieser Tage: Fit bleiben, Abstand halten, Karaoke singen, die Nerven bewahren, an die Wand starren. Die Hedi ist aber keine Herausforderung. Die Hedi ist Freiwilligkeit, Freude, Laufenlassen. Deshalb soll das Ganze hier nicht Challenge heißen, sondern: Frau Hedi multiplizieren. Denn Frau Hedi multiplizieren heißt: Freude vervielfältigen. Also: Wenn Ihr ein Stichwort oder einen sogenannten Hashtag verwenden mögt, dann diesen: #frauhedimultiplizieren.

Die Musikszene unterstützen

Das Ganze ist natürlich ein hübscher Versuch. Teilt diesen Beitrag gerne und sagt es allen weiter. Mal sehen, ob jemand mitmacht.  Aber ich freue mich jetzt schon auf jeden einzelnen Beitrag — als Überbrückung, bis wir uns alle in der Realität wiedersehen. Mit Bier in der Hand und Seegang im Herzen.

Diese Aktion hat aber auch einen ernsten Hintergrund: Viele Hamburger Musikclubs, darunter auch Frau Hedi, sowie zahlreiche DJs, Musikerinnen und Musiker, Bands, Technikerinnen, Booker, Veranstalterinnen und andere Akteure aus der Popbranche sind vom Corona-Shutdown in ihrer Existenz bedroht. Lasst uns zeigen, dass dieses freiheitliche Leben in Clubs und Bars, auf Konzerten und Festivals nicht wie selbstverständlich aus unserem Leben verschwunden ist. Und wenn Ihr ein paar Euro auf Eurem Konto übrig haben solltet, dann spendet gerne, zum Beispiel hier: 

Hedi-Soli-Ticket
S.O.S. — Save Our Sounds: Spendenaktion der Clubstiftung
Support your local musician — Spendenaktion RockCity Hamburg

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Reeperbahn Festival 2018, Tag 4 – Finale und Fazit

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All die Musik und all die Menschen, all die Gespräche, Gesichter und Geschichten driften noch drunter und drüber durch Hirn und Herz am Tag nach dem Reeperbahn Festival. Langsam runterkommen. Zeit, Bilanz zu ziehen.

Die Organisation

Auch im 13. Jahr dieser Clubsause denke ich: Wow, was für eine logistische Meisterleistung. An vier Tagen und Nächten gibt es auf St. Pauli rund 500 Konzerte plus Hunderte weitere Veranstaltungen aus Kunst, Film und Konferenzteil an 90 Locations, die hoch professionalisiert bespielt werden. Das Reeperbahn Festival 2018 erlangt zudem einen neuen Besucherrekord: 45.000 Popfans und Konferenzteilnehmer kamen auf den Kiez.

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Gesehen auf einer Jeansjacke im Molotow

Und was mit hundertprozentiger Gewissheit eintritt: der Faktor Zufall. Etwa das kurzfristig krankheitsbedingt abgesagte Konzert von Ibeyi in der Elbphilharmonie. All das will geregelt und kommuniziert werden. Sollte es für solche großen Acts wie beim Theater eine zweite Besetzung geben? Wäre das noch Rock ’n‘ Roll? Aber wäre es nicht auch unfassbar cool, hätte ein Hamburger Newcomer im Großen Saal spontan als Ersatz zur Wandergitarre greifen können?

Die Besucher

Mich faszinieren Festivals immer besonders, wenn jede und jeder dort seine und ihre Nische finden kann. Und durch das Reeperbahn Festival führen Tausende individuelle Wege. Vermutlich würde es gegen Trilliarden Persönlichkeitsrechte verstoßen, die Einlassbänder mit einem Tracker (ähnlich wie bei Vogelbeobachtungen) auszustatten. Aber vier Tage und Nächte lang die Bahnen der Besucher zu verfolgen, wäre extrem spannend. In meinem Freundes- und Bekanntenkreis allein gibt es bereits die unterschiedlichsten Verhaltensweisen zu betrachten.

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Queen Zee im Backyard des Molotow

Die Superorganisierte wechselt mit Stundenplan im Halbstundentakt von einer Band zur nächsten. Die Netzwerkerin ist zu so vielen Meet & Greets eingeladen, das sie erwägt, Tupperschüsseln mitzubringen, um sich die nächsten Monate von den Festivalhäppchen zu ernähren.

Der Ergebnisoffene lässt sich treiben und trudelt von diversen Vor-der-Türe-Schnacks zu Konzerten und zurück. Der Geschäftsmann arbeitet sich von Termin zu Termin und hat maximal drei Bands gesehen. Die Genrefixierte grast sämtliche Hip-Hop-Acts beim Reeperbahn Festival ab. Der Energieeffiziente bleibt die gesamte Festivalzeit im Molotow und vergnügt sich dort vor mittlerweile vier Bühnen (quasi ein Hurricane Festival auf kleinstem Raum). Die Erschöpfte nimmt sich am Freitag einen Festival-Off-Day, um am Samstag ausgeruht in den Endspurt gehen zu können. Und dann gibt es noch die Ticketbesitzerin, deren freier Wille über das Programm siegt – im Stile von: „Es ist so schönes Wetter, ich lege mich jetzt an den Elbstrand“.

Persönlichkeiten 2018

Zwei Menschen sind für mich beim Reeperbahn Festival 2018 herausragend präsent. Beide sind mit ihrem Auftreten und ihren Aussagen so etwas wie der „Talk Of The Festival“. Sie erschaffen einen positiven Buzz. Die Rede ist von Hamburgs Kultursenator Carsten Brosda und Linda Perry, Sängerin und Songschreiberin der 4 Non Blondes sowie Produzentin, Labelmanagerin und in diesem Jahr Mitglied in der Jury des Newcomer-Awards Anchor.

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Artwork beim Anchor Award

Carsten Brosda gibt optisch im Anzug den seriösen Politiker, ist aber in seinen Worten ein freiheitsliebender Geist. Auf dem Festival ruft er Rede um Rede emphatisch und euphorisierend dazu auf, unsere demokratischen Werte zu verteidigen und mit der Kraft der Musik unseren diversen, offenen Lebensstil zu beflügeln.

Als Gegenbeispiel zu einem freiheitlichen Dasein nennt er einen Vorfall aus den USA: Auf dem Plattencover zu „Songs Of Resistance“ von Marc Ribot will eine Sängerin, die an einem der Songs beteiligt ist, nicht namentlich genannt werden. Sie hat Angst, dass ihre Inhalte der Trump-Regierung missfallen und ihr das Visum entzogen wird. Und Brosda fragt sich: „Wo leben wir eigentlich?“ In was für – im negativen Sinne – irren Zeiten? Bei der Verleihung des Anchor Awards am Samstagabend im St. Pauli Theater wünscht er sich für uns alle vor allem eines: „being different without fear“. Diese Formulierung wiederholt Brosda mehrfach. Starker Applaus.

Linda Perry, das personifizierte „Don’t Fuck With Me“

Definitiv anders – und furchtlos – ist Linda Perry. Die schmale Frau mit dem markanten Hut ist beim Reeperbahn Festival auf Panels und in Interviews zu erleben. Sie ist die Stimme, die permanent sagt: „Aber der Kaiser ist doch nackt“. Eine radikale Wahrheitssucherin und -aussprecherin. Das personifizierte „Don’t Fuck With Me“.

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Die Jury des Anchor Award (v.l.): Linda Perry, Cassandra Steen, Tony Visconti, Skye Edwards und Jason Bentley

Ich kann mir gut vorstellen, dass es nicht zuletzt ihrer famosen Kratzbürstigkeit zu verdanken ist, dass es mit Faces On TV sowie Tamino beim Anchor 2018 direkt zwei Gewinner gibt. Recht unverblümt macht Perry bei der Verleihung deutlich, dass sie von allen acht Nominierten, die die Jury im Laufe des Festivals live erlebt hat, mehr erwartet. An Performance. An Energie. Rock ’n‘ Roll sei schließlich kein 9-to-5-Job. Ihre Ansprüche seien hoch. Auch an sich selbst.

Linda Perry ist ein zähes Biest. Eine Naturgewalt. Einerseits blafft sie den Moderator an, ob er Angst vor ihr habe. Andererseits sorgt sie mit ihrem Auftritt bei der Anchor-Gala für meinen intensivsten Gänsehaut-Moment des Festivals. Gemeinsam mit den Sängerinnen Skye Edwards von Morcheeba und Cassandra Steen von Glashaus interpretiert sie – am Flügel spielend und begleitet vom wunderbaren Kaiser Quartett – ihren Hit „What’s Up“. Eine zarte Reprise. Ich muss mich wirklich zusammenreißen, vor lauter Schönheit nicht loszuheulen.

Entwicklungen

Das Reeperbahn Festival zeigt zunehmend Haltung zu gesellschaftlichen, aber auch brancheninternen Themen. Das gefällt mir.

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Metronomy beim Anchor Award

Der Anchor Award ist – vor allem im Vergleich zum eingestellten, auf Verkaufszahlen basierenden Echo – ein guter Impuls in der Landschaft der Poppreise. Wieso ständig das ohnehin schon Exzellente auszeichnen, wenn doch das Künftige unterstützt werden kann? Der Anchor ist geschmackvoll inszeniert und gehaltvoll in der Auseinandersetzung mit Musik. Das zeigt allein die offensichtliche Uneinigkeit der Jury. Was kann Popkultur denn besseres passieren, als dass sie Anlass zu beherzten Diskussionen ist. Dass sie nicht egal ist. Dass sie lebt.

Mehr Musikerinnen auf den Bühnen

Fantastischer Weise deutlich spürbar sind die Auswirkungen des Keychange-Programms, das der britische Musikfonds PRS Foundation 2017 initiiert hat. Mehr als 100 Musikfestivals aus Europa und Kanada, darunter das Reeperbahn Festival, haben sich verpflichtet, dass 50 Prozent der musikalisch Mitwirkenden bis 2022 Frauen sein sollen. Sprich: mehr Musikerinnen auf den Bühnen. Das heißt vor allem: mehr Abwechslung. Top.

Zu erleben ist das am Samstag zum Beispiel bei den estnischen Rapperinnen von Hoax. Im Karatekeller des Molotow hauen die beiden hochfrequent ihren Sprechgesang heraus. Wut und Humor, Power und Skills. Die Menge feiert das. Yeah!

Ideen fürs Reeperbahn Festival 2019

So ein verdichtetes Popkultur-Erlebnis wie das Reeperbahn Festival wirft bei mir sofort das Kopfkino an, was noch alles möglich wäre. Von daher anbei einige Ideen, Anregungen und Wünsche meinerseits für das Reeperbahn Festival 2019.

1. Noch mehr Vielfalt

Ich wünsche mir noch mehr stilistische Vielfalt, mehr abgefahrenen Kram und vor allem noch mehr Input aus anderen Ländern – ungewohnte Rhythmen, überraschende Melodien, noch mehr unterschiedliche Sprachen aus Südamerika, Afrika und Asien.

2. Kuratierte Abende

Helen Schepers von der Fahrradgarderobe, die ich beim Helga Award kennenlerne, erzählt mir von einem Jazzfestival in den Niederlanden, auf dem einzelne Musiker Abende kuratieren. Eine sehr schöne Idee. Ich wünsche mir als neues Fangirl eine Nacht mit Künstlern, die Linda Perry auswählt. Ein Abend von Jarvis Cocker oder Damon Albarn fände ich ebenfalls fein. Bitte denken Sie groß.

3. Hamburg-Abend

Im Hamburg-Haus im St. Pauli Museum haben sich beim Reeperbahn Festival 2018 hiesige Labels wie Backseat und hfn music präsentiert. Sehr gut ist das. Wie wäre es zudem mit einem Abend ausschließlich mit Acts aus Hamburg? So hätten Besucher von außerhalb die Chance, geballt Talente aus der Hansestadt zu erleben.

4. Open Stage

Das Reeperbahn Festival arbeitet mittlerweile derart professionell, dass mir ein wenig das anarchische Moment fehlt. Wie wäre es als kleines Guerilla-Element mit einer Open Stage am Mittwochabend? Bands könnten sich vor Ort anmelden und werden nach dem Losverfahren auf die Bühne gebeten. Eine Jury oder das Publikum wählt den Gewinner, der dann am nächsten Tag einen Slot im Festival-Programm erhält.

5. Internationale Blogger Battle

Da ich selbst gerade angefangen habe, über Popmusik in Hamburg zu bloggen, bin ich natürlich sehr dafür, dieses Medium zu pushen. Wie wäre es also beim Reeperbahn Festival 2019 mit einer internationalen Blogger Battle? Schreiber (und Podcaster) aus verschiedenen Ländern berichten aus ihrer ganz individuellen Perspektive über das Festival. Ich stelle mir das äußerst inspirierend vor.

6. Schlafbärenquartier

Das Reeperbahn Festival ist in manchen Momenten einfach nur fordernd, ja anstrengend. Mitunter möchte ich als Besucherin einfach nur eine halbe Stunde Ruhe haben, um mich dann wieder frisch auf all die neue Musik einlassen zu können. Wie wäre es daher mit einem (akustisch abgeschotteten oder mit Noise-Cancelling-Headphones versehenen) Ruheraum, einer Chilloutarea, einem Entspannungsseparee? Oder, wie ich es nennen würde, einem Schlafbärenquartier? Gerne mit Massage-Einheit. Danke.

See you next year

Ich jedenfalls bin sehr gespannt auf das Reeperbahn Festival 2019. Jetzt ist ja erstmal ein Jahr Zeit, um sich auszuruhen.

Zum Nachgucken

Wer tolle Fotos vom Reeperbahn Festival sehen möchte, dem seien die Instagram-Accounts von Charles Engelken und Stefan Malzkorn empfohlen.

Zum Nachlesen – mein Reeperbahn Festival 2018
Klaus Voormann: Vernissage zum Reeperbahn Festival
Tag 1 – positiver Schockzustand
Tag 2 – preisverdächtig
Tag 3 – Nachdenken über Musikjournalismus

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Reeperbahn Festival, Tag 1 – positiver Schockzustand

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Es ist Reeperbahn Festival, wenn du mittags mit dem Betreiber des Bioladens um die Ecke bereits erste Konzerttipps austauschst. Und wenn du nachts zuhause noch mit einer Freundin textest, wie denn nun der Auftritt dieser einen Rapperin war, den du verpasst hast. Reeperbahn Festival ist ein State Of Mind. Ein popkulturelles Kraftfeld.

Ich brauche immer eine Weile, um in diesen anderen Aggregatzustand zu wechseln. Die geballte Ladung Mensch plus die hoch dosierte Zahl an Konzerten, die St. Pauli ab Mittwoch auflädt, erzeugt eine Energie, die erst einmal bei mir ankommen muss. 42.000 Besucher werden auf bis zu 500 Konzerten erwartet. Am ersten Festivaltag befinde ich mich daher gerne in einer Art positiven Schockzustand.

Vier Tage Reeperbahn Festival, das bedeutet für mich jedes Mal auch: loslassen lernen. Sich trotz all der Gesprächstermine, Meet & Greet-Veranstaltungen und eben Konzerte zunehmend treiben lassen. Sich der Reizüberflutung hingeben. Und da ich mich möglichst schnell wieder ins Geschehen werfen möchte, anbei flugs einige Schlaglichter des ersten Festivaltags.

Ankommen im Festival Village: Uwe, Folk und grüne Pillen

Ich checke im Festival Village ein, wo ich am Vorabend bereits die Vernissage der Klaus-Voormann-Ausstellung besucht habe. Das temporäre Dorf auf dem Heiligengeistfeld erlebt sein zweites Festival-Jahr und ist wesentlich schöner sowie gemütlicher gestaltet als bei seinem Debüt. Ich treffe Hamburgs womöglich größten Musikfan, nennen wir ihn Uwe. Er plant, am Nachmittag bei Ray Cokes‘ Reeperbahn Revue als Gast an die Bühnenbar gebeten zu werden. Was ihm, wie ich später erfahre, auch gelingt. Beeindruckend hartnäckige Leidenschaft.

Auf der Brausehersteller-Bühne spielt der Kanadier Jon Bryant feinen Folk und fragt die Umstehenden, ob es in Hamburg gute Spas gebe. Unverständige Blicke. Wellness kommt definitiv nach dem Festival, nicht währenddessen. Ein Sponsor verteilt Ohrstöpsel, Seifenblasen und giftig grüne Pfefferminzbonbons, die sich nach Mitternacht bestimmt gut als Drogen verkaufen lassen. In einem Container lasse ich mich für die Organisation SOS Mediterranee fotografieren, die sich für die Rettung Schiffbrüchiger im Mittelmeer einsetzt. Eine irritierende Gleichzeitigkeit.

Opening Reeperbahn Festival: Ray, Geld und Aushängeschilder

Im Schmidts Tivoli findet, knackig moderiert von dem alles wegmoderierenden Ray Cokes, die offizielle Eröffnung statt. Bürgermeister Peter Tschentscher spricht ebenso wie Festivalchef Alexander Schulz und die französische Botschafterin Anne-Marie Descôtes. Denn Frankreich ist diesjähriges Partnerland des Reeperbahn Festivals. Sie alle plädieren für eine von Popkultur beförderte offene Gesellschaft. Und sie mahnen an, dass all die Musiker, die uns so eine tolle Zeit bescheren, anständig vergütet gehören. Das ist sehr gut.

Hellhörig gemacht hat mich die Aussage von Andreas Görgen vom Auswärtigen Amt, der das Reeperbahn Festival neben dem Filmfest Berlinale und der Frankfurter Buchmesse als eines der drei kulturellen Aushängeschilder in Deutschland bezeichnet. Wow.

Das Reeperbahn Festival erhält bis Ende 2019 zusätzlich zur bisherigen Unterstützung 2,55 Millionen Euro aus Bundesmitteln. And more to follow. Ich freue mich, dass Popkultur derart gepusht wird. Und gleichzeitig denke ich sofort darüber nach, wie es um die Finanzierung und Förderung all der kleinen und größeren Clubs in Hamburg durchs Jahr hindurch bestellt ist.

Drei Highlights: Alma, Endorphine und Lob den Backlinern

Joel Culpepper in Angie’s Nightclub: Der Sänger aus London bündelt den Geist von James Brown und Prince in seinem stetig groovenden movenden Körper, um sich selbst dann noch mit all den Rappern dieser Welt zu kreuzen. Ein Glücksfall von Festival-Fund, der bereits am frühen Abend zu zwingend tanzender, mitsingender, schwitzender Glückseligkeit führt. Erste Endorphine.

Alma im Docks: Die finnische Sängerin wird von ihrer DJ (geile Metalkutte!) angesagt wie mindestens Beyoncé. Auf die Bühne kommt dann ein pummeliger Emo-Teenager in Schwarz mit langem knallblondem Haar. Famoser Kontrast. Denn dann powert diese Soulstimme samt Beats und Geballer durch den Saal. Pop zwischen cool und happy. Und eine riesige Inspiration, sich einfach mit seinem individuellen Körper, seiner eigenen Art, mit seinem ganzen schönen merkwürdigen fantastischen Selbst in diese Welt zu werfen. Schockverliebt.

1000 Gram im Headcrash: Wir sind eine Viertelstunde vor Konzertbeginn in dieser famos ranzigen Location am Hamburger Berg. Und niemand ist da. Der Barmann füllt gerade den Kühlschrank auf. Ich habe Angst, dass das eine ganz traurige Veranstaltung wird. Doch fünf Minuten vor der Show füllt sich der Raum schlagartig.

Reeperbahn Festival, Clubs, Hamburg, St. Pauli, Pop, France, concerts, Biggy Pop, 1000 Gram, Band, Berlin, Headcrash Die ausgefuchsten Festival-Besucher haben sich verwöhnter Weise bereits daran gewöhnt, dass die fleißigen Stagehands, Backliner und Bühnentechniker mittlerweile ein pünktlich wie am Schnürchen laufendes Event wuppen. Applaus für alle, die nicht im Rampenlicht stehen! Und für die darin sowieso. In diesem Fall 1000 Gram aus Berlin, ein Quintett von schlonziger Liebenswürdigkeit. Hymnischer Slackerrock. Mehrstimmige Gitarren- und Gesangsmelodien. Kurzer 90er-Jahre-Flashback von der allerbesten Sorte.

Und heute ist dann wieder heute.

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„Reeperbahn Festival“ 2018: Biggy Pops tierische Top Ten

"Reeperbahn Festival", Fox, Pop, Hamburg

Jetzt kommt die Zeit, in der die Tiere wieder hinein wollen. Heute früh bin ich bereits von einer kompakten Spinne, einem langbeinigen Exemplar sowie diversen Marienkäfern begrüßt worden. Partytime!

Es wird kälter. Die Tiere sind unruhig. Sie dürfen wieder in die Clubs, ohne dass dieser Einkehrtrieb vom Rausgehzwang unterdrückt wird. Dach und Druck statt Himmel und Heiterkeit.

Passend zu diesem aufkommenden Indoor-Feeling hat die große Hamburger Club-Sause, dasReeperbahn Festival“, nun seinen Timetable für die tollen Tage vom 19. bis 22. September veröffentlicht. Und weil ich heute ohnehin schon über Tiere nachdachte und da ich ja nun irgendwie mal anfangen möchte mit dem Durchhören der vielen angekündigten Festival-Acts, ziehe ich einfach die nun folgende Kategorie an den Haaren beziehungsweise am Fell herbei.

Hier ist sie also:
Biggy Pops Top Ten der tierischen Teilnehmer des „Reeperbahn Festivals“.

Jaguwar: Mi 29.9., 23.20 Uhr, Nochtspeicher

Das Raubtier mit der arty Schreibweise. Ich habe diese Berliner Band Anfang des Jahres bereits in meiner Radiosendung Das Draht auf Byte FM gespielt. Damals war soeben ihr Debütalbum „Ringthing“ beim Hamburger Label Tapete Records erschienen. Ich mag den hall-verliebten, halb ausgetüfftelten, halb hingebretterten Sound des Trios. Der Gesang von Oyèmi Noize lässt mich kurz an Juliana Hatfield denken. Ein Tier, in dessen Adern Wave und Noise und Rock und Pop pulsiert. Und das sich beim Gitarrenspiel gerne auf die Pfoten guckt. Das klingt dunkel und zugleich von der Sonne geküsst.

Goat Girl: Mi 19.9., 0 Uhr, Häkken & Do 20.9., 21.30 Uhr, Knust

Yeah, yeah, yeah! Vier Ladies aus London, die sich dem bockigen Ziegentum im allerbesten Sinne verschrieben haben: Die Hufe gewetzt und das Fell struppig spielt Goat Girl einen coolen, lasziven und angenehm spröden Mix aus Indierock, Sixtiesbeat, Jingle-Jangle-Pop und Postpunk. Als Roller-Derby-Fangirl liebe ich Kampfnamen. Und mit Clottie Cream, Rosy Bones, Naima Jelly and L.E.D. sind bei dieser Band vier Premium-Pseudonyme am Start. Besonders amüsant finde ich das Video zu „The Man“, in dem Goat Girl die Beatles-Hysterie geschlechterumgedreht nachspielen: Auf der Bühne rocken die Ziegen, flennend am Zaun davor hängen die Typen. Mäh, mäh! Ich bin gespannt, wie das beim „Reeperbahn Festival“ so zugehen wird.

DeWolff: Do 20.9., 17 Uhr, Molotow Backyard & Fr 21.9., 22.30 Uhr, Knust

Aahuuuu! Meister Isegrim heult gerne laut. Doch als ich DeWolff das erste Mal 2017 beim Festival „Sommer in Altona“ im Zirkuszelt sah, spielte die Band aus den Niederlanden wegen Lärmschutzauflagen das wohl leiseste Konzert ihrer Geschichte. Ich freue mich daher schon sehr darauf, das Trio mit ihrem psychedelischen Südstaatenrock im wortwörtlichen Sinne aufgedreht zu erleben. Ich verspreche mir nicht weniger davon als ein Biest, das gerne im Dreck wühlt und sich im Sound verbeißt.

Lion: Do, 20.9., 21 Uhr, St. Pauli Kirche

Mitunter sind Klischees ja auch was Feines. Wer sich im Popkontext eine Person mit dem Künstlernamen Lion vorstellt, könnte flugs bei Beth Lowen landen – blondbraune Mähne, lauernder Blick und kraftvoller Auftritt. Das Wichtigste jedoch: Diese Löwin besitzt eine Stimme, die nicht sanft schnurrt, sondern wild und rau aus den tiefsten Tiefen emporsteigt. Die Australierin, die es nach England verschlagen hat, ist eine unberechenbare Musikerin, die sich mal scheinbar dösend dem Singer-Songwriter-Sound hingibt, um dann blitzschnell mit der Pranke des Rock ’n‘ Roll zuzuschlagen. Wer sich auf Safari in die St. Pauli Kirche wagt, dürfte dort also eher Aufschrei als Andacht finden.

The Dogs: Do 20.9., 23 Uhr, Karatekeller im Molotow

Und wo wir schon bei Stereotypen sind: Bei einer Band, die The Dogs heißt, stelle ich mir ein paar räudige Typen mit dicken Koteletten und verschwitzten T-Shirts vor, die sich irgendwo zwischen Britpop und Punk bewegen, viel Bier trinken und noch mehr davon verschütten. Nun ja, knapp vorbei ist auch daneben. Die norwegischen Hunde, von denen an dieser Stelle die Rede sein soll, sind äußerst adrette Erscheinungen mit schwarzen Hemden und schnieke zurückgekämmten Haaren. Wenn ich mir ihre Songs zwischen Garagen- und Punkrock so anhöre, beschleicht mich allerdings der Verdacht, dass es live durchaus wüst zugehen könnte bei diesem Rudel. Die Frage ist nur: Sechs kläffende Köter im Karatekeller des Molotow – wo soll da noch das Publikum hin?

Walrus: Fr 21.9., 14 Uhr, Kukuun

Wenn sich Walrösser an Land hieven, machen sie einen recht schwerfälligen Eindruck. Im Wasser hingegen gleiten sie elegant dahin, sie überraschen mit entspannten Drehungen und Wendungen. Ganz so verhält es sich mit der Rockband namens Walrus. Schlurfige Typen, deren Songs so psychedelisch dahin driften und mit Wucht um die Kurve kommen, als schwämme das Robbentier durch ein Korallenriff. Alles so schön bunt hier. Und so angenehm verschwommen. Diese wunderbaren Weirdo-Walrosse stammen übrigens aus Halifax und spielen im Kukuun, dem Haus der Kanadier, die beim „Reeperbahn Festival“ traditionell einen großen Aufschlag hinlegen. Da dürfte gewiss einiges an Stimmung überschwappen. Und jetzt alle: „I Am The Walrus“!

Cat Clyde: Fr 21.9., 20.50 Uhr, Schulmuseum

Diese Katze hat den Blues. Und Soul. Und sie besitzt den weiten traurigen Blick, der tief ins Herz des Country hineinzuschauen versteht. In dem Poesiealbum namens Facebook gibt sie an, dass sie alte Westernfilme liebt. Und wir malen uns aus, wie sie dunkel schnurrend diese düsteren Geschichten anschaut, um sie in ihrer Seele abzulagern und später in ihre eigenen schönen Storys zu verwandeln. Dann spielt sie auf ihrer Gitarre Melodien von betörender Schlichtheit, während ihre Stimme zeitlos und facettenreich ertönt. Ein Gesang, der sich in unserer Inneres schleicht, um dort – ganz Katze – zu machen, was er will.

Milkywhale: Sa 22.9., 19.30 Uhr, Häkken

Menschen sollten viel mehr alleine in ihren Wohnungen und Häusern umher tanzen. Unbeobachtet. Albern. Ausgelassen. Sehr schön demonstriert das die junge Isländerin namens Melkorka Sigríður Magnúsdóttir in ihrem Video zu „Birds Of Paradise“, wo sie zu einem feinen, sich euphorisch steigernden Electro-Pop auf Socken durch die Räume tobt. An ihrer Seite jedoch kein milchiger Wal, wie der Name ihres Duos vermuten ließe, sondern ein träge dreinschauender Windhund. Wieso nicht? Je mehr Tiere, desto besser. Die betörenden wie beschwingten Sounds stammen von ihrem Kompagnon Árni Rúnar Hlöðversson, seines Zeichens zudem Mitglied der Band FM Belfast. Spätestens seit dem Roman „Per Anhalter durch die Galaxis“ wissen wir ja, dass sich eine Rakete in einen Wal verwandeln kann. Vielleicht wird es bei diesem Konzert umgekehrt der Fall sein.

Mammal Hands: Sa 22.9., 23.10 Uhr, Resonanzraum

Mammal Hands – Säugetierhände. Willkommen in der Oberkategorie des Tierlichen. Und was fabrizieren sie, die Hände? Jazz. Schwelgerische, atmende, organische, sich in Schlaufen wiederholende und stets leicht variierende, sachte wachsende Musik. Quasi Evolution zum Zuhören. Saxofon, Schlagzeug und Piano sowie Keyboard bilden ein dreiköpfiges wunderschönes Übertier, das beim „Reeperbahn Festival“ im Resonanzraum des Feldstraßenbunkers in seinem entsprechenden Habitat zu betrachten ist.

Black Foxxes: Sa 22.9., 23.15 Uhr, Kaiserkeller

Sind Füchse, die sich mit zwei x schreiben, doppelt so schlau und gerissen wie andere? Mag sein. Vielleicht sind sie auch einfach nur wütender und melancholischer. Das britische Trio Black Foxxes nennt seinen Sound selbst Romantic Gloom. Und da erinnern wir uns doch flugs an all die Fabeln, die den Fuchs an und für sich umgarnen. Und an die Nachrichten, die Reineke immer häufiger bei den großen Städten sehen. Wird da das Tier menschlicher oder der Mensch tierischer? Die Black Foxxes jedenfalls sprechen und schreien mit ihrem brachialen Indierock unsere innersten Instinkte an. Fuchs, du hast den Grunge gestohlen. Gut so.

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