„Do I imagine myself dying or dancing?“ Diese Frage notiere ich mir Anfang dieses Jahres. Ich warte auf Biopsie-Ergebnisse. Tod oder Tanzen? Letztlich liegt die Antwort dazwischen. Ein seltener bösartiger Tumor, der erfolgreich herausoperiert wird. Zur Sicherheit mache ich im Frühjahr eine Strahlentherapie. 33 Werktage hintereinander radele ich in Hamburg ins Krankenhaus. Ich arbeite unterdessen weiter. Es lenkt mich ab. Es ist gut, aber auch notwendig. Über Kranksein im Zuge von Selbstständigkeit wird immer wieder zu reden sein müssen. Erst recht im Musik- und Kulturbereich.
Tod oder Tanzen. Letztlich geht es für mich — losgelöst von der unmittelbaren existentiellen Bedrohung — um meine innere Haltung, wie ich der Welt begegne. Bin ich im Drama- und Krisen-Modus oder kann ich mich mit einer gewissen Leichtigkeit ins Leben begeben? Angesichts der persönlichen und globalen Umstände ist der positive Flow reichlich ins Stocken geraten. Im Jahresrückblick: Die Ukraine und Israel. Rechtsruck und Rassismus. Die Erde überhitzt und überschwemmt. Parallel dazu immer wieder die eigenen Energien aktivieren. Heilen. Weitermachen. Sehr viel lesen. Sehr viel Musik hören.
Motto für 2024: mehr tanzen! Wenn dann noch ausreichend Clubs da sind
Bewegte ich mich die meiste Zeit 2023 in einer Art optimistischen Survival-Mode, überkam mich Ende des Jahres zunehmend eine große Erschöpfung. Von Corona zu Cancer. Drei Jahre Pandemie und dann Krebs. Untersuchungen. Behandlungen. Glück im Unglück. Wieder gesund sein. All diese Anstrengungen und Anspannungen rollten nun zeitverzögert durch Geist und Körper.
Mein Motto für 2024: mehr reisen, mehr tanzen. Wenn dann noch ausreichend Clubs da sind, um dies zu tun. Das Jahr war popkulturell betrachtet ohnehin schon erneut herausfordernd. Der Sexismus in der Musikbranche kam mit den Enthüllungen um Rammstein aufs Hässlichste zum Vorschein. Musikschaffende können aufgrund gestiegener Kosten und neuer Spotify-Regelungen künftig noch schlechter von ihrer Kunst leben. Und große Konzerte werden dank irrsinniger Ticketpreise zum Luxusgut. Hinzu kommt in Hamburg zum Jahresende ein unglaublicher Aderlass in der Club-Kultur. Das Pal und die Sternbrücken-Clubs machen dicht. Und überraschend ist dem Molotow zu Mitte 2024 der Mietvertrag gekündigt worden. Tod oder Tanzen? Irgendwie beides.
Wir brauchen Räume, in denen wir uns begegnen und entgrenzen können
Ein Vierteljahrhundert meines Lebens habe ich bisher im Molotow verbracht. Dieser Ort — ob nun die alte Location in den Esso-Häusern oder die neue am Nobistor — ist absolut identitäts- und gemeinschaftsstiftend. Denn wir brauchen reale Räume, in denen wir uns begegnen und entgrenzen können. In denen wir uns tanzend imaginieren und neu erfinden. Wo Musik an den Gefühlen zieht und sie ausbrechen lässt. Bis der Schmerz und das Schöne, die Euphorie und die Zweifel aller sich zu einem wunderbar wirren Tanz zusammenfinden. Ein kollektives Erlebnis, das uns verbindet. Eine Utopie, die uns befeuert. Und für die es sich unbedingt zu kämpfen lohnt.
Popkultur hat mich durch dieses Jahr getragen. Denn zum Glück gab es auch viele positive Entwicklungen und Ereignisse. Mehr Austausch über herausfordernde Themen. Mehr Awareness auf Festivals und in Clubs. Und auch wenn Aufzählungen im Jahresrückblick nicht das Spannendste sind, so möchte ich doch von einigen Highlights erzählen. Denn letztlich dienen sie auch der Selbstvergewisserung. Ich bin noch da. Wir sind noch da. Tauschen uns aus. Wir vertrauen uns. Und reiben uns. Wir gehen weiter.
Popkulturelle Highlights 2023: „Barbie“, K-Dramas, Konzerte
Im Kino zeigte die Dokumentation über Die Sterne äußerst nahbar die Neujustierung einer Band. Und mit dem Referenzfeuerwerk „Barbie“ wurde im Mainstream wochenlang über Formen des Feminismus diskutiert. Dann noch die zu Dua Lipa tanzende Barbie, die mitten hinein in die Choreo fragt: „Do you guys ever think about dying?“ Check. Und sowieso: „I’m just Ken“. Was für ein Spaß! Toxische Männlichkeit revisited. Ich bin zudem verstärkt abgesunken in Serien. In die Hochleistungsküche von „The Bear“. In die gelebte Diversität von „Sex Education“. Und immer wieder in das einnehmende Storytelling von K-Dramas.
Doch nichts geht über das Live-Erlebnis. Über ganz unterschiedliche Konzerte von unter anderem Robbie Williams, Hauschka, Vicky Leandros, Sigur Ros, Uche Yara, dem Joni Project und Alli Neumann, die ich 2023 erleben durfte. Der Hamburger Kneipenchor feierte ebenso zehntes Jubiläum wie ich mit meinem geliebten Gesangsensemble The Octavers. Im TBA in der Gaußstraße luden wir im Sommer zum Geburtstagskonzert. Eine lauschige Hinterhof-Location. Es leben die kleinen Off-Orte!
Jahresrückblick auf mein berufliches popkulturelles 2023
Immer wieder bin ich enorm dankbar, in meiner Arbeit als selbstständige Journalistin, Texterin und Moderatorin so vielen inspirierenden Menschen zu begegnen. Für Albumbios und Pressetexte habe ich mit großartigen Bands und Pop-Artists zusammengearbeitet. Unter anderem mit der deutsch-türkischen Indie-Formation Engin, mit der wunderbar geheimnisvollen Musikerin June Coco, mit der vielschichtigen Künstlerin Dorothee Möller aka Weesby, mit der immer wieder einfallsreichen Band Mischpoke, mit dem feinsinnigen Duo Fjarill oder mit Deer Anna, deren wahrhaftige Songs ganz tief in einem wirken.
Ich liebe es, mich intensiv über die Kunst auszutauschen und die Musik mit Geschichten zu verbinden. Meine Erfahrungen aus dieser texterischen Arbeit bringe ich seit diesem Jahr auch in Beratungen ein, zum Beispiel mit der tollen Cellistin Stefanie Richter aka Sophie & der Sommer. Zudem durfte ich meine Freundin Sascha Just begleiten, die ihre Dokumentation „Ellis“ über den Jazzmusiker Ellis Marsalis bei Filmfestivals wie der Soundtrack Cologne präsentiert hat.
Dank an die Kolleginnen und Kollegen, die meinen Horizont erweitern
Ich freue mich zutiefst über all die neu entstandenen und gesund gewachsenen Kooperationen. Über die immer neuen Ideen und den langen Atem. Über die Zusammenarbeit mit der Initiative Musik, mit RockCity und Oll Inklusiv etwa. Und auch über die angeregten Diskussionen bei meiner Gremientätigkeit für die Kulturbehörde Hamburg in der Labelförderung und beim Musikstadtfonds.
Mein Dank gilt im Jahresrückblick zudem allen Kolleginnen und Kollegen, die mit ihrem Input immer wieder meinen Horizont erweitern. Zum Beispiel Caro Schwarz vom Online-Magazin Musicspots, Fabian Schuetze vom Newsletter Low Budget High Spirit und Susanne Hasenjäger vom NDR, um nur einige zu nennen. Nicht zu vergessen meine bloggenden Freund*innen Julia Keith von Beautyjagd und Weinspezialist Matthias Neske von Chez Matze. Keine Popkultur im engeren Sinne. Aber wir wollen ja alle hübsch über den eigenen Tellerrand hinausschauen, richtig?
Wenn die Wellen wogen und die Herzen überschwappen
Es geht darum, wieder und wieder ins Gespräch zu gehen. Für meine NDR-Radiosendung Nachtclub Überpop habe ich mich mit KI befasst, mit der Lage von Newcomer*innen und Clubs. Auf Festivals und Konferenzen habe ich Panels zu Popkultur und Politik, Musikbranche und Songwriting moderiert. Und für das Hamburger Abendblatt habe ich nicht nur das Kulturleben der Stadt erkundet, sondern bin mit dem Thema „Harry Potter“ auch in das Podcast-Game eingestiegen.
Ich bin ein riesiger Fan von Fankultur. Deshalb begeistert mich die anhaltende Faszination für diese magische Geschichte ebenso wie die hypermodernen Kommunikationsformen des K-Pop. „Standing Next To You“ von Jung Kook ist vermutlich mein am meisten gehörter Song des Jahres. Dicht gefolgt von Miley Cyrus, die ich ebenfalls hart fangirle. „I Can Buy Myself Flowers“. Survival-Mode ins Positive gedreht.
Diese Hymne funktioniert auch beim Auflegen auf der Barkasse Hedi allerbestens. Die Parties als DJ auf der Elbe gemeinsam mit dem grandiosen Hedi-Team sind für mich große Kraftquellen. Wenn die Wellen wogen und die Herzen überschwappen. Und wenn die Leute dicht an dicht mitsingen. Vor allem wenn alle tanzen. Eine Leichtigkeit. Denn: „Nothing matters when we’re dancing“. In diesem Sinne: ein gutes Jahr 2024!