Erst neulich habe ich erfahren, dass einer der größten Musiker Belgiens in Schaerbeek geboren wurde. In jenem Stadtviertel also, wo ich mich derzeit mit Freunden für ein Arbeitswohnprojekt in einer Fabriketage einquartiert habe. Die Rede ist von Jacques Brel. Seines Zeichens Chansonnier, Autor, Schauspieler, Regisseur, Lebemann und Charismatiker.
Vor wenigen Tagen wäre er 90 Jahre alt geworden. Ein schöner Anlass, die Fondation Brel in Brüssel aufzusuchen — ein Archiv und Museum, das gänzlich Leben und Werk des Künstlers gewidmet ist.
Audiotour durch Brüssel: Jacques Brel in 22 Episoden
Das Haus am Place de la Vieille Halle aux Blés bietet Besuchern die Möglichkeit, Filme mit und über Jacques Brel anzuschauen. Und seine Laufbahn anhand alter Zeitungsartikel und Dokumente zu erkunden. Doch da die Frühlingssonne lockt und ich es ohnehin liebe, durch die Stadt zu stromern, entscheide ich mich für die „Promenade“, also die Audiotour. Gerät und Kopfhörer lassen sich für zehn Euro ausleihen. In 22 Episoden — wahlweise auf Französisch, Niederländisch oder Englisch — lässt sich auf den Spuren von Jacques Brel wandeln.
O-Töne von Jacques Brel selbst, von seiner Frau Miche, seinen Kindern und Weggefährten mischen sich mit Erläuterungen eines Erzählers. Und mit zahlreichen Chansons Brels. Eine inspirierende Mischung. Schritt für Schritt, Story für Story, Lied für Lied tauche ich tiefer in Brels Brüssel ein. Vier Stunden lang. Als habe sich eine unsichtbare poetische Matrix auf die Stadt gelegt. Ein 3-D-Hörspiel. Wie losgelöst von den anderen Menschen laufe ich in meiner eigenen Kapsel aus Sound und Zeit durch die Straßen. Und die Passanten erscheinen mir wie Statisten eines Films, zu dem nur ich den Soundtrack höre. Chansons wie „Je suis un soir d’éte“, „La Bière“, „Jef“ oder „Le Bourgeois“.
Eine urbane Existenz, komplex und voller Kontraste
Ich erfahre von Kindheit und Karriere. Von favorisierten Orten und kulinarischen Präferenzen. Von Bühnen und Bars. Aber auch von Fluchten in die Fantasie und von sozialkritischen Aspekten. Und natürlich von Brels unbedingtem Glauben an die Kunst. Eine urbane Existenz, die komplex war und voller Kontraste. Die Profanes und Geniales vereinte. Zudem führt die Tour nicht nur durch die Persönlichkeit Jacques Brel, sondern auch zu diversen Sehenswürdigkeiten Brüssels wie dem Grand Place, dem Garten Mont des Arts und dem Place Sainte-Catherine.
Die vielen kleinen und großen Geschichten schwingen nach. So erzählt etwa Brels Frau Miche von den 50er-Jahren, als ihr Mann in der Hoffnung auf künstlerischen Erfolg nach Paris aufgebrochen war. Vom Maison Dandoy, einer traditionellen Brüsseler Bäckerei, habe sie ihm seine Lieblingskekse geschickt, die jedoch zerbröselt im französischen Domizil angekommen seien. Mich amüsiert diese Anekdote deshalb, da sich in unserer Schaerbeek’schen Fabriketage ebenfalls diverse Dandoy-Tüten türmen. Genauer gesagt zeigen wir bereits leichte Suchterscheinungen bezüglich des köstlichen Mürbegebäcks.
Die absolute Verkörperung seiner Chansons
Ein Zitat, das auf Höhe des Kulturzentrums Bozar eingespielt wird, fasziniert mich besonders. In dem Konzertsaal hatte sich Jacques Brel 1966 von seinem Brüsseler Publikum verabschiedet, bevor er 1967 sein Tourdasein komplett beendete. „Es braucht einen Mann, um einen Song zu schreiben. Aber es benötigt ein Tier, um ein Lied zu singen“, hat Jacques Brel gesagt. Und er habe hinzugefügt: „In den vergangenen Jahren bin ich zu sehr Tier gewesen.“ Ein klarer Ausdruck dessen, dass ihn aufrieb, wofür er berühmt war: die absolute Verkörperung seiner Chansons und all ihrer Emotionen bei Live-Auftritten. Er lebte all die Figuren und ihre Schicksale, die er für seine musikalischen Miniaturen ersonnen hatte.
Natürlich kann ein solcher Rundgang stets nur einen Ausschnitt darstellen. Jacques Brels späte Jahre in der Südsee werden ebenso ausgespart wie die diversen amourösen Liaisons, die parallel zu seiner Ehe stattfanden. Aber vor meinem geistigen Auge tritt er diverse Male auf, dieser junge Mann, wie er sich durch die Brüsseler Kneipen diskutiert und seinen künstlerischen Weg zu finden versucht. Und wie er später als etablierter Star 1968 an der Oper La Monnaie das Musical „Der Mann von La Mancha“ inszeniert. Mit sich selbst in der Hauptrolle und höchst gefeiert.
Völlig im Brel-Sentiment kehre ich zurück zum Place de la Vieille Halle aux Blés. Nachdem ich den Audioguide bei der Fondation Brel abgegeben habe, betrachte ich noch einmal die Statue des Sängers vor dem Haus. Jacques Brel war für seine besondere Physiognomie bekannt. Aber eine so hässliche Büste hat nun wirklich niemand verdient. Womöglich eine (nicht sonderlich subtile) Rache dafür, dass Jacques Brel doch meist woanders lebte als in Belgien.